Fallschirmjäger
Das Jahr 1960 bildete den Auftakt für eine neue Geschichte des nördlichen Abschnittes von Block V. Bauarbeiten für eine Luftlandetruppe der DDR – Fallschirmjäger – bestimmten zunächst das Bild. Erst jetzt erfolgte der Ausbau der großen Schlafsäle zu Soldatenstuben. Im Erdgeschoss wurde der Sanitätstrakt mit Med. Punkt und Duschsaal ausgebaut. Im Parterre des 8. Lichthofes (Hof des geplanten Bildungszentrums) entstand ein Laden der Militär-Handelsorganisation (MHO). Hatte der Personenkult in Prora nach Kriegsende vor allem Josef Stalin (1878-1953) gegolten, so wurde 1969 in der Mitte des Blocks V eine Art Gedenkplatz für den Namensgeber des Fallschirmjägerbataillons „Willi Sänger“ geschaffen.
Ein signifikanter Neubau entstand mit dem sog. Trockenturm (abgetragen um 2010) am nördlichen Ende des Blocks. Und zwar dort, wo in der Nazi-Diktatur ein geplanter Gemeinschaftsbau über Fundamente nicht hinausgekommen war. Zudem wurde eine Waffenkammer errichtet (abgetragen um 1997), hinter der sich ein Schießplatz mit Zielscheiben in Richtung Meer befand. Das Fundament der Waffenkammer ist noch heute sichtbar. Die meerseitig auf einer Plattform stehende DDR-Skulptur „Zwei Sportler“ wurde erst im Jahr 2002 dort errichtet. Ein Beispiel, wie die DDR-Geschichte an diesem Ort nach der politischen Wende geschönt und hinter dem erst jetzt entstehenden „Seebad“ vertuscht wurde (siehe „Erinnerungskultur“). Während schon damals das erst jetzt entstehende Seebad gefeiert wurde, interessierte die wahre Geschichte des Ortes so gut wie gar nicht. In Wahrheit aber forderte das Gelände rund um Block V zu DDR-Zeiten mehr als zwei Dutzend Todesopfer durch Unfall und Suizid.
Nichts als Kiefern, Wasser und Soldaten
Das Fallschirmjägerbataillon ging mit einer hohen Motivation der meisten hier eingesetzten jungen Männer an den Start. Die Suche nach Abenteuer und die Verteidigung einer „besseren Gesellschaftsordnung“ gingen bei den meisten Soldaten des Bataillons Hand in Hand. Viele junge Männer motivierte der 1957 erschienene Roman des Autors Harry Thürk: „Stunde der toten Augen“. Manch einer wurde jedoch auch zur entstehenden Elitetruppe der NVA geschickt, ohne dass er wusste, was ihn dort erwartete.
Der abgelegene Ort und das unverputzte riesige Gebäude war für nicht wenige zunächst ein Schock. „Hier gab es nichts, nur Kiefern, Wasser und Soldaten“, schreibt Gerhard Leutert, der das Fallschirmjägerbataillon mit aufbaute. Bei seiner Ankunft führte ihn der Kommandeur ans Fenster in der ersten Etage (heute Haupteingang der Jugendherberge), „öffnete es, drehte sich zu uns und sagte (zu zwei künftigen Fallschirmspringern): Haben Sie Angst?“
„Mir platzte heraus; ‚Nein!‘ Daraufhin drehte er sich halb zum Fenster und schrie ‚Sprung!‘ Wir standen beide da wie belämmert. ‚Also habt ihr doch Angst!‘. Ich fasste mir ein Herz und antwortete: „Wenn wir springen, dann aber nicht ohne Fallschirm!‘ Da leuchteten seine schmalen Augen und er sagte: ‚Na, warum nicht gleich so, jetzt wissen Sie, wo sie sind!, und grinste dabei ganz schelmisch.“
Zit. nach Gerhard Leutert: Fallschirmjäger der NVA, 30 Jahre Fallschirmdienst, 2012.
Zeitzeugenbericht
J. Kuhnt berichtet über die heutige Jugendherberge aus den 1970er Jahren:
„[…] Wenn man am hellen Tage unsere Kasernenanlage betrat, ließ man alle Hoffnungen fahren. Ein riesiger fünfstöckiger Bau mit ins Land springenden Seitenflügeln, die einmalig hässlich, da unverputzt, waren. Die Kompanieflure gingen landwärts und die Unterkünfte und Dienstzimmer zeigten seewärts. Das war im Sommer sehr schön und im Winter ,schweinekalt‘. Nicht selten kam es vor, dass beim morgendlichen Erwachen, Schnee im Zimmer lag, weil die Fenster undicht waren. Da aber sowieso bei offenem Fenster geschlafen wurde, die Heizung nichts taugte und es sowieso nur kaltes Wasser gab, war das auch egal. Gefroren haben wir im Winter fast immer. Aber durch das morgendliche Bad in der Ostsee, die permanente Kälte, waren unsere Körper so abgehärtet, dass es Erkältungskrankheiten einfach nicht gab. Gleich rechts, nach dem Passieren des KdL, lag der hölzerne Klub des Truppenteils mit integriertem Wachlokal. Geradeaus weiter kam man zum Stab und den Stabsdienstzimmern. In der Mitte des etwa 400 m langen Baus lag im Erdgeschoss das Verpflegungslager und die MHO (Militärhandelsorganisation), also die Verkaufseinrichtung, die wir während der Grundausbildung nicht betreten durften. […] Als Fazit möchte ich sagen, dass die meisten Soldaten und Offiziere den Wegzug von der Insel nach LEHNIN sehr bedauerten und einige Berufssoldaten die Verlegung nicht mitgemacht haben. Ihre Wurzeln auf der Insel waren zu stark, als das Sie für Ihre weitere Karriere die Insel aufgeben wollten. In der Regel wurde diesem Wunsch nachgekommen und die Männer in andere, auf der Insel stationierten Truppenteile versetzt. […] Wer kann sich noch an den Katastrophenwinter 78/79 erinnern, wo gerade die Fallschirmjäger für die Insel lebensrettende Maßnahmen durchführten. Ob sie nun schwangere Frauen aus der letzten Ecke der Insel auf einem Schlitten nach Bergen in das Krankenhaus gezogen haben oder Hefe für Brot von Bergen nach Saßnitz auf Skiern transportierten, um keine Hungersnot zuzulassen. Schneesprengungen um die Wege und Gleise wieder befahrbar zu machen oder in Bussen eingeschneite Kinder zu retten, waren nur einige der Handlungen, zu denen nur diese gut ausgebildeten und hoch motivierten Männer, die auf der Insel zur Verfügung standen, in der Lage waren. Die Insel ist schön und sehenswert ob nun im Winter oder im Sommer.“
In Prora wurde eine schlagkräftige (mehrfach umbenannte) Truppe geschaffen, die bereits in den 1960er Jahren auf 500 Mann anwuchs. Gesprungen wurde mit sowjetischen Fallschirmen. Die Ruinen des benachbarten teilweise gesprengten KdF-Blocks nutzten die Fallschirmjäger zwei Jahrzehnte lang zu Abseil- Nahkampf- und Sprungübungen. Mutig war der Sprung aus dem 5. OG. Vor der Ruine Block VI befand sich ein kleiner Hubschrauberlandeplatz, heute zum Basketballspiel genutzt. Im März 1982 wurde die Einheit nach Lehnin verlegt. In Block V, nördlicher Abschnitt, brach nach 22 Jahren eine neue Ära an.
Historische Aufnahmen aus der Geschichte der Fallschirmjäger in Prora
Aus der Chronik der Fallschirmjäger
1960-1983
Verdeckter Aufbau der Fallschirmjägereinheit: Drei Jahre nach Gründung der Nationalen Volksarmee erließ der Befehl des Ministers für Nationale Verteidigung (MfNV), Armeegeneral Willi Stoph, im Jahr 1959 den Befehl, ein Luftlandebataillon der Landstreitkräfte aufzustellen. Heinz Hoffmann, seit dem 14. Juli 1960 neuer Minister für Nationale Verteidigung, setzt weiter für die Aufstellung weiter ein.
Oktober 1960
In Prora erfolgt dieAufstellung des Mot.-Schützenbataillons 5 (MSB 5). Erster Kommandant wird Oberstleutnant Ehrhard Bernhagen (damals Major).
September 1961
Erste Fallschirmsprünge einer FJ-Kompanie über dem Flugplatz Barth aus der zweimotorigen Iljuschin Il-14 mit sowjetischen Fallschirmen PD-47, RS-1 und PD-41. Zu dieser Zeit besteht das Bataillon aus zwei Fallschirmjägerkompanien (FJK) mit je 80 Mann (Gliederung in je drei Züge mit je drei Gruppen).
Bewaffnung und Uniform entsprechen denen der Mot.-Schützen.
13. Januar 1962
Befehl des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR, Armeegeneral Heinz Hoffmann, über die Aufstellung einer Fallschirmjägereinheit der NVA. Ihre Aufgabe ist u.a. die Aufklärung von Führungsstellen, Verkehrs- und Nachrichtenknotenpunkten. Die Fallschirmjäger dienen mindestens drei Jahre als Soldat auf Zeit (SAZ).
28. Februar 1962
Anlässlich des 6. Jahrestages der Nationalen Volksarmee wird auf Beschluss des Nationalen Verteidigungsrates das Mot.-Schützenbataillon 5 (MSB-5) in Fallschirmjägerbataillon 5 (FJB-5) umbenannt. Somit entsteht die Waffengattung Fallschirmjäger/ Luftlandetruppen der Nationalen Volksarmee. Die Gesamtstärke des FJB-5 beträgt zu diesem Zeitpunkt 342 Soldaten, 80 Unteroffiziere sowie 43 Offiziere.
1962
Der „Kampfanzug für Aufklärer“ wird an die Aufklärer, an die Angehörigen des Fallschirmdienstes der Luftstreitkräfte sowie an die Fallschirmjäger ausgegeben. Er besteht aus einer Jacke und Hose aus Dederonmischgewebe und ist in Vierfarbdruck, auch Flächendruck genannt, hergestellt. Der bisherige Kampfanzug und die einteilige Sprungkombination entfallen.
13. September 1962
Oberstleutnant Ehrhard Bernhagen übergibt das Bataillon an seinen Nachfolger, Major Hubert Pardella.
2. März 1963
Generalmajor Martin Bleck, Chef des Militärbezirks V, übergibt in Prora die Truppenfahne an das Fallschirmjägerbataillon 5. Die Umbenennungen werden jedoch durch Fahnenbänder angezeigt.
9.–14. September 1963
Teilnahme der Fallschirmjäger an der Übung »Quartett« im Süden der DDR. Erstmals üben Truppen und Stäbe von vier sozialistischen Armeen (SoA, Polnische Armee, Tschechoslowakische Volksarmee und NVA) gemeinsam in einem Manöver auf dem Territorium der DDR.
15. Februar 1964
Die Leitung des MfNV beschließt die Einführung einer speziellen Uniform für die Fallschirmjäger der NVA. Gemäß DV-98/4 wird die schrittweise Einführung der neuen Uniform vorgenommen. So werden für den Dienst Keilüberfallhosen und Sprungschuhe eingeführt. Anstatt des Schiffchens wird ein steingraues Barett als Kopfbedeckung getragen. Als Waffenfarbe wird orange bestimmt.
1. Mai 1964
Erstmalige Teilnahme an der Mai-Parade in der Hauptstadt.
29. Januar 1965
Sämtliche Fahrzeuge der NVA erhalten das Hoheitsabzeichen: Schwarz/Rot/Gold mit Staatswappen in runder Form, Durchmesser 200 Millimeter. Erstmalig war das Hoheitsabzeichen jedoch beim Manöver »Quartett« verwendet worden.
1. September 1966
Oberstleutnant Hubert Pardella übergibt das Kommando an Hauptmann Gleau.
Oktober 1967
Erstmalige Verleihung des Fallschirmsprungabzeichens der NVA.
1968
Teilnahme an der Kommando Stabsübung »Frühling/Sommer 68«.
15. April 1968
Major Egon Gleau übergibt das Bataillonan an Oberstleutnant Schulz.
1969
Einführung des roten Baretts und der Uniform mit offenem Kragen (offene Fasson). Inkraftsetzung der Dienstvorschrift DV 30/4 „Gefechtseinsatz von Einsatzgruppen“.
23. September 1969
Dem Fallschirmjägerbataillon wird der Traditionsname »Willi Sänger« verliehen.
1970
Teilnahme an den Übungen »Frühling 70« sowie »Waffenbrüderschaft« (12. bis 18.Oktober 1970). Das FJB-40 nimmt an einer kombinierten See-Luftlandung im Raum der Insel Usedom teil.
1. November 1971
Übernahme des Bataillons durch Major Kurt Elsner.
1. Dezember 1971
Umbenennung in Fallschirmbataillon 2 (FJB-2).
6. Januar 1972
In Begleitung sowjetischer und NVA-Generalität, darunter Armeegeneral Heinz Hoffmann, besucht der Staatsratsvorsitzende und Parteichef Erich Honecker den Truppenteil „Willi Sänger“.
8. November 1972
Neben der Unterstellung unter das Kommando Landstreitkräfte erfolgt die Umbenennung in Fallschirmjägerbataillon 40 (FJB-40).
1. Dezember 1972
Bildung des Kommandos der Landstreitkräfte in Potsdam-Geltow. Befehlshaber und gleichzeitig Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung wird Generalleutnant Horst Stechbarth. Das FJB-40 wird dem neu geschaffenen Kommando der LaSK unterstellt.
1973
Erste Veröffentlichung im westlichen Ausland über das FJB-40 in „Informationen für die Truppe“ sowie „Infantry Magazin“.
26. – 31. März 1973
Teilnahme an der Kommandostabsübung »SEWER 73« , die gemeinsam mit den Truppen der GSSD auf dem Territorium der DDR stattfindet.
1. September 1973
Oberstleutnant Elsner übergibt das Bataillons an Major Friedhelm Reddig.
19. September 1973
Der Befehl 148/73 modifiziert die Bedingungen für den Erwerb des Fallschirmsprungabzeichens. So sind für den Erwerb der Grundstufe – ohne Anhänger – nur noch fünf statt zehn Sprünge erforderlich.
20. Februar 1976
Generalleutnant Horst Stechbarth wird zum Generaloberst befördert.
7. Oktober 1978
Gründung des „Willi-Sänger-Clubs“ in Berlin durch Reservisten des Fallschirmjägerbataillons bei einem Treffen zum Anlass der Ehrenparade zur Staatsgründung der DDR.
31. Dezember 1978
Durch starke Schneefälle kommt es zu Stromausfall, der Straßen- sowie auch der Schienenverkehr lahmlegt. Auf der Insel Rügen setzt ein fast dreiwöchiger Hilfseinsatz ein, der die Versorgung von Teilen der Bevölkerung durch das Fallschirmjägerbataillon 40 sicherstellt.
1979
Übergabe des Bataillons an Major Langer.
8. Juli 1980
Sprung der 1. FJK im Verlauf der Truppenübung »Zyklon 80« , die im Raum Wismar , Ludwigslust , Kyritz durchgeführt wird. Die Fallschirmjäger werden als Diversionseinheiten gegen die gegnerischen Truppen eingesetzt.
4. – 12. September 1980
Teilnahme am Manöver »Waffenbrüderschaft 80« , welches in verschiedenen Bezirken der DDR stattfindet. An der abschließenden Parade in Magdeburg beteiligen sich auch die Fallschirmjäger.
1981
Beginn des Umzuges nach Lehnin (bei Potsdam, Bezirk Brandenburg).
1981
Bildung der 4. Fallschirmjägerkompanie (FJK) als Wachkompanie für das Ministerium in Strausberg, den Minister für Nationale Verteidigung, seine Stellvertreter und deren Familien. Dies erfordert einen Personalzuwachs von etwa 200 Mann.
25. März 1981
Übung »Nordwind 81«. Absprung im Norden der DDR (Rostock, Wismar).
2. August 1981
Übergabe des FJ-Bataillons an Oberstleutnant Flache.
15.03.1982
Verlegung nach Lehnin – Truppenlager.
1983
Sämtliche Fallschirmjägerkompanien werden in die Wachstellung Strausberg einbezogen.
16. – 19. März 1983
Eine Militärdelegation aus der VR Jemen besucht die DDR. Neben anderen militärischen Einrichtungen besuchen die Militärs auch den Truppenteil „Willi Sänger“.
Zu den Informationen: vgl. http://www.fallschirmjaeger-nva.de/index.php/1973-1986.html 1960-1982