Hof 8 (Künftiges Bildungszentrum EG)
Spurlos entschwunden: der Med. Punkt
„Für die Soldaten muß das endlose graue Haus ein Ort der totalen Auslieferung gewesen sein. Prora wie Eggesin galten zu DDR-Zeiten immer als Begriffe für gnadenlosen Drill und endlose Furcht. Einer, der den Waffendienst verweigert hatte (...) erzählt, daß es auf der Krankenstation, dem ‚Med.Punkt’ keinen Mangel an ‚durchgedrehten‘ Leuten gegeben habe: ‚Die liefen rum, fuchtelten mit den Armen und gackerten wie Hühner“.
So schrieb die Ostsee-Zeitung im Jahr 1994, als der sog. Med.Punkt, heute Speisesaal der Jugendherberge, bei einem der Prora-Symposien zur Zukunft des plötzlich nun sog. „KdF-Bades“ in die Schlagzeilen geriet und damit die eigentliche Nutzungsgeschichte des Kolosses kurzzeitig aufflackerte.
Da in den Reihen der NVA auch mit Medikamenten experimentiert wurde, ist Selbiges auch hier anzunehmen. Die Geschichte des Med.Punktes wurde nie aufgearbeitet. Auch bildliche Dokumentationen gibt es nicht. Der komplette Rückbau dieses Traktes ist ein Symbol, die Nutzungsgeschichte des Abschnittes des heutigen Jugendherberge „ungeschehen“ zu machen.
Den Med.Punkt in Block V betrat man vom Hof zwischen dem Treppenhaus 7 und 8 (Hof des künftigen Bildungszentrums) durch die Tür links. Linkerhand führte eine Tür in die bescheidene Physiotherapie hinein.
Die Treppe hinauf führte in den militärischen Stab. Unten im Flur, so erinnert sich ein Zeitzeuge der 1980er Jahre, stand stets das zuverlässigste Gefährt der Med.Punkt-Fahrzeugflotte – ein grüner „Bollerwagen“ mit lenkbarer Vorderachse. Mit ihm wurde in Thermophoren das Essen für die Patienten von der großen Küche im südlichen Abschnitt geholt. Damit er möglichst heftig quietschte und insofern die monotonen Abläufe störte, ölten ihn die im Med.Punkt beschäftigten Reservisten angeblich absichtlich selten. Die beiden Fahrzeuge des Med.Punktes B1000 Sankra und Robur LO 1800 waren Ende der achtziger Jahre häufig nicht betriebsbereit. Ersatzteile waren Mangelware.
Geradeaus, rechts vor der Treppe (inzwischen ist hier eine Wand eingezogen, vor der die Treppe herumgeführt ist – siehe Slider), befand sich das Aufnahme-Fensterchen des Med.Punktes. Hinter dem Fenster stand der Schreibtisch des Sanitäters vom Dienst, im Rücken ein blecherner Karteischrank mit Hängeordnern für die braunen sogenannten Gesundheitsbücher der Grundwehrdienstleistenden und wohl auch der Reservisten aus dem südlichen Abschnitt des Blockes.
Von diesem Zimmerchen aus wurde der elektrische Türöffner betätigt, um in den desinfektionsmittelgeschwängerten Behandlungstrakt zu gelangen.
Im Bereich Lichthof 8 lagen der Wartebereich und zwei einfach ausgestattete Behandlungsräume mit Liege, Medikamentenschrank, einem Schreibtisch mit zwei Stühlen und einem Blutdruckmessgerät darauf sowie einem Sterilisationsgerät für Instrumente. Dazwischen war das Büro des einzigen fest angestellten Militärarztes platziert – Zeitzeugenberichten aus den 1980er Jahren zufolge ausgestattet mit imitiertem Perserteppich, Schrankwand, Schreibtisch, drei kantigen braunen Ledersesseln um einen kleinen Couchtisch herum und einigen Wimpeln.
Während die Medien eifrig aus dem sog. „ehemaligen KdF-Bad“ berichten, verschwindet eine Spur jahrzehntelanger Nutzung des Gebäudes zugunsten der NS-Planungsgeschichte − ohne Dokumentationen vonseiten der Behörden: Zu sehen ist der Abschnitt im Jahr 2007, dann im Frühjahr 2010 (mit den nun freigelegten Betonpfeilern im Bereich des künftigen Speisesaales), im Herbst 2010 (die Wand ist zugemauert) und im Frühjahr 2011 (der vorn einst freistehende Pfeiler ist in eine neue Wand integriert, vor der die Treppe - abweichend von den Originalplänen - herumgeführt wurde).
Einer der ältesten Med.Punkte der Anlage
Bereits unter russischer Besatzung als solcher genutzt, gehörte der Med.Punkt zu den ältesten von etwa vier medizinischen Stützpunkten der Anlage. „Schwester Laura stand schon im Sprechzimmer, Sie hatte einen besonders flotten Arbeitsstil“, erzählt der ehemalige Reservist Jürgen Haase aus eigener Erfahrung: „ruckzuck fegten Alkhol-Lappen über die Schränke, ruckzuck wurden Spritzen aufgezogen, ruckzuck Instrumente gereicht.“ (Haase, Hindernislauf, 1991, S. 200)
Schwierigere Fälle verlegte man in den besser ausgestatteten Med.Punkt der Militärtechnischen Schule (Prora-Ost), ins Militärlazarett Stralsund oder auch ins Kreiskrankenhaus Bergen. Hinter dem Zahnarztzimmer, in dem sogar Wurzelspitzenresektionen ausgeführt wurden, ging es in die Krankenstation hinein: „In der Bettenstation lagen Erkältungsnasen und psychisch Geschädigte“, weiß der ehemalige Reservist Haase über das Klientel zu berichten.
Die Patientenzimmer mit bis zu sechs Betten, heute Speisesaal der Jugendherberge, lagen seeseitig. Darunter befand sich auch ein kleineres Offizierszimmer und dazwischen ein von zwei Betonpfeilernaus vormaligen Bauplänen geteilter Aufenthaltsraum mit Tischen, Stühlen und Fernseher. Zum Flur hin war dieser Raum offen, die Fenster führten ebenfalls zur See hinaus. Davor türmte sich der Müll, der aus den oberen Etagen hinabgeworfen wurde und wegen der Gefahren aus der Luft vom Revierdienst nur mit Stahlhelm gereinigt werden durfte. Mit den vielen Möwen, als fliegende Ratten bezeichnet, trieb man seinen Schabernack: „Küchen-Spaßvögel lockten sie an und bemalten ihre Bäuche mit Tusche. Für zwei Tage flogen eine Rote-Kreuz-Möwe und eine mit Majorschulterstücken zum Ärger einiger Militärs umher.“ (Haase, Hindernislauf, 1991)
Geradeaus führte eine Tür in die Infektionsdusche. Zum Hof hin, an die Aufnahme anschließend, waren die beiden Bade- sowie etliche Wirtschaftsräume platziert, unter anderem eine kleine Küche mit ockerfarbenen Fliesen und ein Zimmer für die weiblichen Pflegekräfte, über die Reservist Haase bei Dienstbeginn hörte: „Sieh dich vor den Schwestern vor, die melden alles weiter. Ihre Männer haben militärisch was zu sagen.“
Die Aufteilung der vielen kleinen, hinter der heutigen Freitreppe zur Jugendherberge gelegenen Zimmer richtete sich nach den Betonpfeilern, die vom KdF-Rohbau her vorhanden waren. Zwischen ihnen wurden nach dem Krieg die Mauern hochgezogen, sodass diese ursprüngliche (inzwischen wieder freigelegte) Architektur nicht mehr sichtbar war. Dieser bauliche Ausdruck der Transformation des Bauskeletts aus den 1930er Jahren zur Kaserne verschwand zugunsten von Küche und Speisesaal der Jugendherberge.
Zeitzeugen berichten über den Med. Punkt:
Ehem. Reservist Jürgen Haase, Ankunft 1987:
„Für mich öffnete sich die Pforte des Med.Punktes. Dieser Ort hatte normalerweise weniger mit Uniformen zu tun. Dort gab es Sanitätskraftwagen, Ärzte, Patienten und Schwestern und eine gute Küchenverbindung, schließlich waren Sanitäter Küchenkontrolleure. Ein fast Glatzköpfiger, noch Lodenmantelzivilist, ein Unteroffizier und ich wurden durch eine Schwester in das Zimmer des Regimentsarztes beordert. Militärisch geordnete Militär-Medizinbücher und mehrere Wimpel waren in diesem Raum am auffälligsten. Ansonsten reichten drei Worte zur Charakterisierung: einfach, militärisch, geschmacklos. ‚Wir werden zusammenarbeiten, ich mache das Militärische, in Behandlungen rede ich nicht rein. Wir haben es hier nicht so einfach. Der schwere Stand kommt von nebenan, Spatensoldaten mit Rechtsanwälten, die laufend Eingaben schreiben …‘“
Ehem. Bausoldat Uwe Rühle, 1982:
„Vor etlichen Monaten hatte er (ein Bausoldat) mit erheblichen Beschwerden im Knie, seine Vermutung - eine Kreuzbänderzerrung, den Med.- Punkt unseres Objektes aufgesucht. Die Reaktion war unzureichend, zumal ein Facharzt für solche Probleme hier nicht existierte. Das Personal der gesamten medizinischen Einrichtung bestand bis auf deren Leiter ausschließlich aus Reservisten, welche aus dem Zivil-Bereich hierher für ein Vierteljahr eingezogen wurden und zu denen sich sogar Gynäkologen zählten. Aufgrund der fragwürdigen und absolut erfolglosen Behandlung schrieb der betroffene Bausoldat eine Eingabe an die Führung der NVA, welche ihm sehr viel Ärger und etliche nachhaltige Attacken auf sein ohnehin schon angekratztes Nervenkostüm einbrachte.“
„Vor wenigen Tagen hatte er (ein Bausoldat) über heftige Schmerzen in der Nierengegend geklagt und lindernde Mittel genommen. Da sich sein Zustand nicht besserte, war er dann auf Anraten der Kameraden zum hiesigen Med.-Punkt gegangen, um dort sein Leid zu klagen. Er gab an, schon als Kind Schwierigkeiten mit den Nieren gehabt zu haben und äußerte seine Vermutung über eine Kolik. Es half nichts - man diagnostizierte ‚Blinddarm‘ und schickte ihn ins Krankenhaus Stralsund. Dort gelang es ihm erst wenige Meter vor dem OP die Ärzte zu überzeugen, er wurde geröntgt und seine Diagnose bestätigt. Der Med.-Punkt begann in den Augen der Bausoldaten sein wahres Format preiszugeben.“