Mehrzweckhalle - Spur des Widersetzens
Schräg gegenüber dem neuen Eingang steht eine schmucke Halle mit moderner Holzverkleidung und weißgeputzen Wänden. Dröhnten in dieser Halle tatsächlich Maschinen, wie die Architekten vermuteten, als sie im Jahr 2007 davon ausgingen, eine „Maschinenhalle“ zur Mehrzweckhalle für den Jugendzeltplatz Prora umzubauen? Allenfalls nach 1990 wurde sie als eine solche genutzt. Doch die DDR-Wirklichkeit sah anders aus:
Mitte der siebziger Jahre wurde die Halle als Turnhalle errichtet, links ein kleiner Fitnessraum integriert: „Die Halle verfügte darüber hinaus über eine eigene Toilette und eine Dusche mit warmen Wasser! Betreut wurde die Halle von einem Reservisten, der hier seine Dienstzeit auf einem Hocker absaß.“ (Zit. nach BRÖSING, Der Bausoldat, 2008, S. 209.)
Diese Halle, die sich die damaligen Machthaber einiges kosten ließen, war wohl ein Ausdruck der Wertschätzung der Fallschirmjägereinheit. Auch später noch war sie für manch andere trainierende Soldaten eine wahre Errungenschaft.
Eine weitreichendere Bedeutung hatte die Halle für die Grundwehrdienstleistenden, darunter vor allem die Bausoldaten. Sie war die erste Station nach der Ankunft und der Ort, an dem die Waffenverweigerer das Gelöbnis auf den SED-Staat abzuleisten hatten. Dem verweigerten sie sich. 2007 griff in Anknüpfung an das Buch „Der Prinz von Prora“ (2005) ein Journalist im „Nordkurier“ die Bedeutung der Halle für die ankommenden Bausoldaten auf.
Zivilen Zwecken angepasst ist ebenfalls die berüchtigte ‚Turnhalle‘ an der Regimentsstraße. Vor fast 20 Jahren war sie die erste Station der Proraer Spatensoldaten. Die jungen Männer mussten sich ausziehen und in hässlich braune Trainingsanzüge mit rot-gelben Streifen steigen. Manche der Rekruten weinten. Dem ersten Anpfiff zum Appell folgte das zweifelhafte Gelöbnis auf einen Staat, der die Waffenverweigerer als Querulanten abstempelte. Man war nur noch eine Nummer in steingrauer Uniform.“
Zeitzeugen berichten über das Einkleiden
Ehem. Bausoldat Uwe Rühle, 1982:
„Dort (in der Turnhalle) wird angetreten und gewartet. Jeder geht nun den Weg an einer Reihe Tische vorbei, hinter welchen verschiedene Offiziere gebeugt über riesige Listen sitzen.
Einer fragt nach dem Namen, der nächste nach dem Beruf, ein weiterer nach Weltanschauung oder religiöser Zugehörigkeit, und auch die Mitgliedschaft in Massenorganisationen wird schriftlich festgehalten. ‚Freie Deutsche Jugend‘, ‚Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft‘, ‚Freier Deutscher Gewerkschaftsbund‘ und die SED sind die Organisationen, deren Mitgliedschaft einen guten Soldaten zieren sollten. Die Ausbeute auf diesem Gebiet ist allerdings erschreckend dünn, wenn man bedenkt, daß andere Einheiten in der Regel auf eine 100%-ge Mitgliedschaft in der FDJ und DSF verweisen können.
Dann wird einem jeden eine wichtige Frage gestellt: ‚Sind Sie bereit, ihren Dienst ohne Waffe gewissenhaft zu versehen?‘ Jeder ist bereit. Eine negative Beantwortung dieser Frage würde einer Wehrdienstverweigerung gleichkommen, und die Entscheidung zwischen diesen beiden Varianten war ja bei jedem bereits gefallen. Gegenüber befindet sich ein kleineres Gebäude, in welchem nun schon die ersten ihr sog. Ehrenkleid und verschiedene andere Utensilien erhalten, deren Verwendungszweck in ursprünglich geplanter oder auch zweckentfremdeter, indessen nicht minder nützlicher Form sich einem jeden Soldaten erst nach längerem Hiersein erschließen sollte. Dieser Vorgang ist aufgrund der Anproben mühsam und zeitraubend und gibt den meisten Gelegenheit, sich etwas gründlicher umzusehen.
Entlang einer Betonstraße liegen eine große Wiese und ein mit Asche und Schlacke bestreuter Sportplatz. Zur Linken erhebt sich ein sechs Etagen umfassendes Gebäude von einer nicht abzusehenden Länge. Gleichhohe Anbauten an der Hofseite dieses riesigen Bauwerkes teilen den Abstand zur Straße in nahezu quadratische Lichthöfe, deren spärliche Bepflanzung eher dazu angetan ist, den tristen Eindruck der unverputzten und mit uralten Doppelfenstern versehenen Hoffront zu verstärken. (…) Ein stacheldrahtbewehrtes Tor - und dann verliert sich die Betonstraße weiter hinten im Wald. Ein paar halbgesprengte und verfallene Ruinen, welche in ihrer Struktur dem beschriebenen Gebäude sehr ähneln, künden von ursprünglich anderen Bebauungsplänen. Nicht sehr ermutigend dieser Anblick, wenn man bedenkt wie viel Zeit man hier verbringen soll.“31
Ehem. Bausoldat Stefan Wolter, 1986:
„Die erste Station war die Turnhalle. Hier ging die äußere Wandlung vor sich. In Zivil betraten wir sie, und in braune Trainingsanzüge mit rot-gelben Streifen gehüllt traten wir wieder unter Gottes freien Himmel. Ein ,ASV‘ (Armeesportverein)-Aufnäher machte unmissverständlich deutlich, wohin wir nun gehörten. Mein Anzug saß, ich schien anpassungsfähig. Die Initiation geschah an einem Tischchen an der Stirnseite der Halle. Einer nach dem anderen wurde aufgerufen und registriert. (…) Danach begann das Warten in der Kälte. Wir durften uns nicht von der Stelle bewegen. So gab es Gelegenheit, erste Eindrücke zu verarbeiten. So weit das Auge reichte, Stein und Beton, links und rechts der Regimentstraße aber auch kleine, akkurat gepflanzte Kiefern. Die Lichthöfe machten einen militärisch ordentlichen Eindruck, bis auf eine Ausnahme: Der Lichthof, vor dem wir Aufstellung genommen hatten. An dieser Stelle war auch die Kaserne unverputzt geblieben. (...) Plötzlich ertönte ein Bläserquartett hinter einem der unzähligen Fenster: ‚Ein feste Burg ist unser Gott‘. (…) Die etablierten Bausoldaten der 3. Kompanie bekundeten ihre Anteilnahme an unserem Schicksal.“
Ehem. Bausoldat Thomas Brösing, 1988:
„Ich begann mich diesen absurden Abläufen anzupassen. Man hatte mich gezwungen, mich im Freien umzuziehen und es ist noch kalt Anfang Mai an der Ostseeküste. Da sich auch die anderen begannen auf dem Hof zu entkleiden, blieb mir selbst nichts anderes übrig, als dasselbe zu tun. Es ist erniedrigend und verfehlte seine Wirkung nicht. Die Zivilsachen wurden zuerst in den Sack geworfen und die Reisetasche hinterher. Dann trieb man uns mit Gebrüll zu den Stationen der Ausrüstungsverteilung.“
Zeitzeugen berichten über das Gelöbnis
Ehem. Bausoldat Uwe Rühle, 1982:
„Der Tag der Ablegung des Fahneneides ist ein Festtag in der Dienstzeit der Soldaten. An diesem Tag dürfen Verwandte zugegen sein, Pioniere aus den Schulen werden zum Überreichen von Blumen herangeschafft, und ein umfangreicher feierlicher Appell krönt diesen Tag.
Anders hier.
Die Offiziere erschienen natürlich in vollem Ornat, d.h. Paradeuniform, allen Orden und Ehrenzeichen sowie ein Paradedolch zur Linken. Sie waren ob dieses Pompes wohl selbst etwas verunsichert, überspielten dies aber durch besondere Exaktheit und scharfe Befehle.
Entgegen den üblichen Gepflogenheiten mußte die Kompanie in die Turnhalle einrücken. Es lag wohl niemandem etwas daran, dieses minderwertige Gelöbnis auch noch in der Öffentlichkeit ablegen zu lassen. Nach einer kurzen Ansprache, die den erfolgreichen Abschluß der Grundausbildung honorierte und hinwies auf den zukünftigen Einsatz beim Bau des Fährhafens Mukran, wurde dann das Gelöbnis in schon geübter Weise abgelegt.“
Ehem. Bausoldat Bernhard Wagner, 1985:
„In der Turnhalle mussten wir unser Gelöbnis sprechen. Als beim dritten Versuch immer noch keiner was nachsprach, schrie der dicke Gampe, er könne uns bestrafen mit 10 oder auch 5 Tagen Arrest in der Arrestanstalt.“
Ehem. Bausoldat Stefan Wolter, 1986:
„Alle 240 Mann waren in der Turnhalle versammelt und der Oberst kam. Er sprach die Worte vor, wir sollten nachsprechen. Das 1. Mal sprach er die Worte und kein Mensch wiederholte (sagte etwas) – alle 240 schwiegen. Da verließ er den Saal und die anderen Vorgesetzten mussten noch mit uns „üben“. Beim 2. Mal wurde es durchgezogen, aber ich glaube, nicht die Hälfte sprach wirklich mit. Nun ist es überstanden!“
Gelöbnis: Als das Gelöbnis gesprochen werden sollte, schwiegen tatsächliche alle Bausoldaten. Aschendorff (?) verließ die Turnhalle, nachdem er den Kompaniechefs deutlich gemacht hatte, dass sie uns zum Gehorsam bringen (zwingen) sollten. Nach der Drohung durch Porath, dass die wartenden Angehörigen wieder nach Hause fahren würden, ohne uns gesehen zu haben, wenn uns weiter schweigen würden, hat zumindest ein Teil der Bausoldaten das Gelöbnis nachgesprochen.
In meiner Erinnerung gelang es aber erst im dritten Anlauf, das Schweigen zu brechen.“
Ehem. Bausoldat Thomas Brösing, 1988:
„Damit keiner der normalen Soldaten Zeuge dieses abstrusen Aktes wurde, fand das Gelöbnis in der Turnhalle statt. Aus unerklärlichen Gründen benahmen sich die Vorgesetzten wie Kleinkinder zu Weihnachten. Sie hatten sich gewaltig in Schale geworfen und richtig herausgeputzt. Stargast war der Kommandeur von Prora, der diesem Zeremoniell argwöhnisch beiwohnte. Keiner der Bausoldaten wollte dieses Gelöbnis freiwillig ablegen, es wurde nachts stundenlang herumdiskutiert...“
Besonderheit der Bausoldatengeschichte
In den 1980er Jahren hatten die meisten Bausoldaten in der Turnhalle das Gelöbnis abzuleisten. Während der Fahneneid der Nationalen Volksarmee ein üblicherweise hochgespieltes Ereignis war, zog man es vor, die unliebsamen Waffenverweigerer während der Ableistung ihres Gelöbnisses den Augen der Öffentlichkeit zu entziehen. Meist kamen sie nicht eher aus der Halle heraus, ehe zusätzlich eine Unterschrift geleistet war. Denn die allerwenigsten Bausoldaten sprachen den befohlenen Text deutlich nach, gelegentlich versuchten sich Jahrgänge sogar geschlossen zu widersetzen. Erst nach ein bis zwei Anläufen wurde dann das Zwangsgelöbnis gestammelt. An diesen Vorgang, der den Geist der Bausoldaten demonstrierte, erinnert seit November 2010 eine kleine Erinnerungstafel. In der Presseerklärung des Landes Mecklenburg-Vorpommern heißt es anerkennend:
„Die Bausoldaten gehören als Verweigerer des Waffendienstes zur Oppositionsgeschichte der DDR. (…) Die Markierung des historischen Ortes ist ein wichtiger Schritt, um diesen Teil der DDR-Oppositions- und Widerstandsgeschichte stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken. (…) Die Anbringung der Erinnerungstafel ist ein wichtiges Ergebnis der Bemühungen des Denk-Mal Prora e. V.“( Zit. nach Presseerklärung der Landeszentrale für politische Bildung MV, 22. November 2010)
Aus Anlass des 50. Jahrestages der Bausoldatenanordnung kam im Jahr 2014 eine zweite erklärende Tafel hinzu.